Sexarbeit zum Kirchentag

Letzte Woche auf dem evangelischen Kirchentag in Hamburg: „Zwangsprostitution – bei uns vor der Tür? Eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit“

Auf der Veranstaltung debattieren Hilfsorganisationen, ein Theologe, ein Polizeibeamter und ein Schauspieler über Zwangsprostitution. Auf dem Podium sitzen unter anderem der Theologe Thomas Schirrmacher als Vertreter des Dachverbandes der Evangelikalen, der Evangelischen Allianz, sowie Gaby Wentland von der Hilfsorganisation „Mission Freedom“, Leiterin einer evangelikalen Gemeinde in Hamburg. Evangelikale sind unter anderem für eine strikte Sexualmoral bekannt. Sexarbeiterinnen selbst, die zuständige Gewerkschaft oder eine Beratungsstelle für Prostituierte sind nicht auf dem Podium.

[Quelle: NDR]

Damit ihr’s wisst: Wir Prostituierte sind Opfer, grundsätzlich, wenn nicht Opfer eines Zuhälters oder Menschenhändlers, dann der Umstände. Und wer behauptet, keines zu sein, hat ihre verzweifelte Lage nur noch nicht begriffen. Man unterstellt uns ein kollektives Stockholm-Syndrom: es ist ja sooo verständlich, dass wir uns mit unseren Unterdrückern und Vergewaltigern solidarisieren, wenn wir keinen Ausweg sehen, schließlich ist das eine Strategie, eine traumatische Situation psychisch und physisch zu überleben – mit Freiwilligkeit hat das aber natürlich trotzdem nichts zu tun.

Dagegen lässt sich nicht argumentieren – jedenfalls nicht, wenn man tatsächlich psychisch gesund bleiben möchte. Aber ein paar von uns dachten sich, auch wenn bei den sexualfeindlichen christlichen Fundamentalisten, die diese Podiumsdiskussion letzten Donnerstag organisiert haben, Hopfen und Malz verloren ist, gilt das doch hoffentlich nicht für alle Besucher einer solchen Veranstaltung. Mit Glück kommen da auch ein paar Leute hin, die wirklich helfen wollen, und die dann dort nicht nur krass fehlinformiert werden sollten.

Also stellten sich ein paar Kolleginnen und Unterstützerinnen aus Beratungsstellen, eine Vertreterin von Ver.di (die für uns zuständige Gewerkschaft) und private Sympathisantinnen vor Beginn der Versanstaltung vor die Halle am Hamburger Fischmarkt. Mit roten Regenschirmen (dem Symbol der internationalen Sexworker-Bewegung) bewaffnet und teilweise im Arbeitsoutfit haben wir in zwei Stunden 500 Flyer verteilt, viele gute und lange Gespräche mit Kirchentagsbesuchern geführt, und sind bei alledem erstaunlich wenig angefeindet worden.

Flyer zum Download

Eine Frau erklärte mir, sie sei froh, dass es uns gäbe, weil dann wenigstens ihre Tocher in der Disko nicht von Männern angefallen würde. Ich habe mit ihr ein wenig über ihr Männerbild diskutiert, aber ich fürchte, da war nicht viel zu machen.

Dafür haben uns etliche Männer angesprochen, von denen ich aufgrund ihrer Fragen vermute, dass sie sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen oder das gern tun würden. Sie schienen mir sehr erleichtert darüber, dass sie wohl vielleicht doch nicht auf direktem Weg unterwegs in Richtung Hölle sind.

Erstaunlich viele Menschen haben sich unsere Flyer durchgelesen und sind dann nochmal aktiv auf uns zugegangen und haben Fragen gestellt, das hat mich sehr gefreut. Meine Vermutung, dass da doch auch viele Leute hingehen, die noch keine vorgefasste Meinung haben, hat sich bestätigt.

Alles in allem war’s völlig friedlich, wir hatten einen Polizisten, der auf uns „aufpasste“ und einen eigenen Kirchentagsordner. Zwischendurch hat uns jemand zwei Flaschen Wasser und ein paar Becher vorbeigebracht. Einmal hab ich eine Bibel angeboten bekommen und gegen einen Flyer getauscht. Ich habe sie zu den Sexwork-Fachbüchern in meine kleine Puffküche gestellt, ich bin mir sicher, ich werde sie mal für ein Rollenspiel brauchen können. 🙂

Der NDR berichtete.

Das war ein sehr unterhaltsamer und fruchtbarer Nachmittag. Vielen Dank an alle Mitstreiterinnen (unter anderem Lady Tanja aus Harburg) und Unterstützerinnen vor Ort und im Hintergrund – und an all die Menschen, die tatsächlich mit uns, statt nur über uns reden wollten.

7 Kommentare:

  1. Das ist eines der Themen, bei denen es mir am Schwersten fällt, eine fundierte Position einzunehmen. Ich wurde durch die Lebensgeschichten von engen Freunden sehr für die Seite, die wohl auch diverse Menschen auf dem Podium zur Genüge bemüht haben, sozialisiert – bzw. wurde dadurch meine anfängliche Meinung geprägt. Als ich dann die anderen Facetten dieses großen Komplexes aufgezeigt bekam musste ich meine Meinung mehr als einmal revidieren, weil ich damit unglücklich war.

    Ich glaube, ich bin dann dazu übergegangen, Straftaten einfach von allem abzugrenzen und als solche zu sehen – die sind natürlich indiskutabel. Ein frei erwählter ausgeübter Beruf mag ich aber nicht in den gleichen Topf werfen – noch nicht mal in der gleichen Küche behandeln, wenn es um Themen wie der Stellung von Sexworkern in der Gesellschaft geht.

    Ich freue mich, hier im Blog davon zu lesen und freue mich noch mehr über die positiven und mutmachenden Reaktionen der Kirchentagsbesucher!

    • Hallo Tristan,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Das Erschreckende ist tatsächlich, dass es Menschen gibt, die sich nicht vorstellen können, dass Sexarbeit freiwillig gewählt sein *kann*, selbst wenn unsereins wild winkend direkt vor deren Nase steht, und die damit gar keinen Sinn darin sehen, Sexarbeit und Ausbeutung auseinanderzuhalten.

      Als Ergänzung noch ein Kommentar, den ich bereits als Antwort auf jemanden in Tanjas Blog gepostet hatte:

      ***

      Das Problem ist nicht, dass realen Verbrechensopfern geholfen wird. Das Problem ist, dass es Menschen gibt, die uns unsere Entscheidungsfähigkeit absprechen. Schau dir mal das Video hier an:

      https://www.ndr.de/regional/hamburg/kirchentag/wersglaubt/sexarbeiterin109.html

      Dort wird zum Beispiel behauptet: “Die wird sagen, sie macht es freiwillig, de facto aber sind es gesellschaftliche Gründe, die sie zwingen.”

      Das heisst, es geht eben *nicht* um Opfer von Menschenhandel und Ausbeutung, von denen es nach den BKA-Berichten der letzten Jahre ein paar hundert jährlich gab, sondern um die “Zwangsrettung” von Sexarbeiterinnen, die “behaupten”, freiwillig zu arbeiten, die aber angeblich so wenig zurechnungsfähig sind, dass sie gar nicht beurteilen können, wie schlecht es ihnen geht. Und das soll dann auch noch “die Masse” aller Sexarbeiterinnen sein. Mit dieser Begründung werden dann unter dem Vorwand der “Hilfe” regelmäßig Gesetze gefordert, die de facto Sexarbeit in Deutschland noch weiter erschweren bis behindern sollen. (Und das ist es, worum es moralisch bzw. christlich-fundamental motivierten Prostitutionsgegenern auch eigentlich geht.)

      > Im Übrigen müsste es auch vollkommen in eurem Interesse sein, dass die Zwangsverhältnisse stärker bekämpft werden.

      Ich denke, es ist ist hoffentlich in jedermanns Interesse, dass Gewalt und Verbrechen bekämpft werden. Es gibt allerdings gottseidank auch Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit.

      In manchen Gemeinden werden wir regelmäßig zwecks Polizeikontrollen aus laufenden Aktionen mit unseren Kunden aus den Betten geholt. Es gibt Großrazzien, verdeckte Ermittler als Scheinfreier etc. pp. Es gibt keinen Wirtschaftszweig in unserem Land, mit dem sich nach wie vor so viele Sonderparagraphen im Strafgesetzbuch und in den Landespolizeigesetzen befassen, und der dermaßen umfangreich polizeilich kontrolliert wird – und das soll angeblich immer noch nicht reichen? Die Opferzahlen liegen im Promillebereich und nehmen seit 15 Jahren ab, obwohl die Polizeiaktivität sich kontinuierlich erhöht hat.

      Am besten stecken wir alle Bundesbürger gleich präventiv in Einzel-Schutzhaft, das senkt die Verbrechensrate sicherlich auch ganz enorm. Aber um welchen Preis?

      Beste Grüße,
      Undine

      • Das ist wohl wahr – und die Argumentation ist erschreckend. Ich glaube, ein Teil ist auch dem blinden Aktionismus geschuldet, der seit einigen Jahren bei den Entscheidungsträgern en vogue ist. Wird ein einzelnes Verbrechen aufgeklärt, kann man es anscheinend nicht mehr dabei belassen, sondern muss grundsätzlich aus politischer Richtung Tatendrang vorweisen, der meist übers Ziel hinausschießt. Bevorstehende Wahlen verstärken es noch einmal.

        Ich wünsche Euch viel Erfolg!

      • „Am besten stecken wir alle Bundesbürger gleich präventiv in Einzel-Schutzhaft, das senkt die Verbrechensrate sicherlich auch ganz enorm.“ Sehr treffend formuliert 😀

        Ich verstehe auch gar nicht, warum jetzt noch mehr durch Polizei oder Gewerbeaufsicht kontrolliert werden soll, wenn große, staatliche Sicherheitsdienste der USA sowieso schon einen umfangreichen Einblick in Daten aus Europa bekommen können. Da kann man doch gleich nebenbei auch noch die Daten von ein, zwei potentiellen Menschenhändlern mit abgreifen und bei denen vorbeischauen. Ich glaube nicht, dass die mit Trommeln kommunizieren und so ein Smartphone dürfte doch für einen Geheimdienst kein Hindernis darstellen 😉

  2. Liebe Undine,

    seit längerem lese ich Deinen Blog – und bin, unabhängig vom aktuellen Thema, von Deinen Einblicken, Deinem Durchblick und der tiefen Einsicht in so viele Themenkomplexe fasziniert.

    Anlässlich Deiner Präsenz auf dem Kirchentag wollte ich nun auch mal was dazu sagen: Ich finde es mutig und absolut unterstützenswert, dass Du dort warst und Deine Meinung vertreten hast. Trotz anhand der Fragen fühlbarer gewisser vorgeprägter Meinungen seitens des NDR finde ich’s dennoch prima, dass man MIT Dir (bzw. Euch) gesprochen hat.

    Herzlichen und aufrichtigen Dank für Dein Engagement!!

    Viele Grüße,
    Jens

    • Was jetzt dringend geboten ist, ist, mit Besonnenheit zu agieren. Es droht ja offenbar ein Gesetz, das den Sexworkerinnen das Leben schwer macht, zunächst in Bremen, und dann vielleicht auch in den anderen Bundesländern.
      Dass man mit Erfolg Einfluss auf die Meinung der Evangelikalen nehmen kann,kann ich mir kaum vorstellen. Mit vielen Volksvertretern kann man aber durchaus ganz vernünftig reden. So wäre es ja hoffentlich hilfreich, wenn sich Bremer Kolleginnen -sofern sie sich suszudrücken verstehen – wohl vorbereitet an ihre Volksvertreter wenden würden.

      Vielleicht ist ja jemand unter uns, der dezidiert Rat kann, wie man denn die Volksvertreter ansprechen soll.

      Vielen Dank für Euer Engagement, Undine!

      Und viel Erfolg!

      Gerhard

  3. Pingback:Hurendemo auf dem Kirchentag in Hamburg – Zwangsprostitution bei uns vor der Tür | Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen

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